Die folgende Leseprobe stammt aus dem noch unveröffentlichten Manuskript „Das Elefantenschiff und Böbs.“ Dieses Kapitel behandelt den Ukrainekrieg aus der Sicht der Zukunft der Jahre 2060/61. Dem Text ist das Schlagwort „irre“ zugeordnet, weil er Zenos hypomanen Größenwahn dokumentiert. Zeno glaubte im Juli 2022 ernsthaft, innerhalb von wenigen Tagen ein Buch fertigstellen und in die russische Sprache übersetzen lassen zu können, das auf subtile Weise die Unfähigkeit des russischen Generalstabs entblössen und den russischen Lesern die Lust am Krieg nehmen würde.
Manchmal muss man an das größere Wohl denken! Das hier ist Krieg!
(Hermine Granger in: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, Seite 577)
Vor dem Einschlafen nahm Böbs den Heuhaufen wieder in die Hand. Endlich fiel ihm ein, woher er den Namen der Autorin kannte. Joanne Silverstein hatte März ’22 geschrieben, eine literarisch aufbereitete Beschreibung und Analyse in der Tradition von Solschenizyns August 14, die sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und den sich anschließenden ersten Wochen des Krieges befasste. Böbs besaß dieses Buch. Seit über einem Jahr lag es tief unten in einem Stapel ungelesener Bücher, der es immer weiter unter sich begrub. Sein Vater deckte Böbs mit einem nicht enden wollenden Strom aus dessen Sicht lesenswerter Bücher ein. Doch wie stellte der sich das vor? Heiner wusste doch, dass für Böbs die Schulzeit vorbei war. Nie wieder würde er zu Beginn von sechs endlosen, unverplanten Wochen Sommerferien stehen. Ja, am Ende seines vorletzten Schuljahres, da hatte er sich die lange Fassung von Krieg und Frieden von Tolstoi vornehmen können, und auch August 14. Seine Mutter und Oma Doris hatten sich einen gemeinsamen Urlaub am Gardasee vorgestellt, und Böbs war das nur recht gewesen. Warum nicht italienische Sonne?dieser italienische Urlaub hatte Böbs dann tatsächlich beflügelt, nie zuvor hatte er so schnell so viel gelesen. Er durchlebte eine regelrechte russische Phase. Als einzigen Tribut an Italien hatte er Il Principe (Der Fürst) von Machiavelli eingeschoben. Danach hatte er sich wieder den Russen zugewandt, und sich mit Begeisterung Den toten Seelen von Nikolai Gogol hingegeben. Dank Hörbüchern, elektronischen Büchern und Internet konnte Böbs seiner Leidenschaft unbegrenzt nachkommen. Er war zu alt gewesen, als dass seine Mutter ihm Vorschriften gemacht hätte in Bezug auf Schlafenszeiten. Und er konnte mit seinen Mitreisenden zu Fuß auf den Monte Baldo hinaufwandern und nebenbei auf den Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege verweilen. Er hatte nach harten Verhandlungen mit den beiden Frauen vereinbart, dass er jeden Tag für 2 Stunden seine Kopfhörer aus den Ohren nehmen und dann gedanklich voll bei seinen Mitreisenden sein musste. Blieben jeden Tag 14 Stunden für die Bücher. Das war ein guter Deal gewesen.
Als Böbs nun Silversteins eigene Zusammenfassung des Ukrainekriegs im Heuhaufen las, schlug ihr Text ihn in seinen Bann. Silverstein behauptete, dass Russland spätestens am Donnerstagvormittag des 14.07.2022 den Krieg in der Ukraine verloren habe, weil sich danach der letzte und vielleicht wichtigste strategische Fehler der russischen Seite mit voller Wucht entfaltete. Silverstein schrieb:
„In den napoleonischen Kriegen gab es eine umwälzende militärische Innovation, die generelle Mobilmachung. Sie bewirkte eine schlagartige Vergrößerung der Heere, weil plötzlich ein Großteil der männlichen Bevölkerung unter Waffen gestellt werden konnte. […]
Im Herbst 1914 bewiesen die Russen ihre Unfähigkeit, diese damals bereits alte Innovation umzusetzen. Sie warfen sich in den Ersten Weltkrieg, bevor sie erfolgreich mobil gemacht hatten, und verloren diesen Krieg bereits in den ersten Kriegsmonaten. Den Rest des Krieges, also die dreieinhalb Jahre bis zum Separatfrieden von Brest-Litowsk vom März 1918, benötigte das riesige russische Reich nur, um zu sterben.
Zudem machte Russland im Ersten Weltkrieg den Fehler, die Technologie des Funks einzusetzen, ohne dass das Heer ausreichend geschult war, die Funksprüche zu verschlüsseln. Diese beiden Fehler hat Solschenizyn in August 14 sehr anschaulich dargestellt.“
Dem konnte Böbs nur zustimmen. Die Russen mochten im Bereich des Militärischen nicht immer eine glückliche Hand haben, aber im Schreiben von Romanen waren sie Meister. Böbs las weiter:
„Weiterhin lässt sich argumentieren, dass der russische Bär von 1815–1914 in einem tiefen Winterschlaf lag, während sich der preußische Staat mit den Stein-Hardenbergschen Reformen in allen Bereichen modernisierte.
Im Ukrainekrieg hat Russland alle drei Fehler reproduziert. Russland war in allen Bereichen rückständig. Unzureichende russische Truppen wurden ohne generelle Mobilmachung in diesen Krieg geschickt. Und die Funktechnologie wurde genutzt, anscheinend ohne dass die militärische Führung überhaupt begriffen hatte, dass private Handys in den Hosentaschen der Soldaten eine dramatische Sicherheitslücke sind. Da fragt man sich doch: Was machten die russischen Generäle damals eigentlich beruflich?
Viertens und letztens haben die Russen auch in der 2022 vergleichsweise neuen Domäne, dem Medienkrieg, dem Krieg der Bilder, desaströs verloren.
Die Russen hatten nicht die militärische Bedeutung der Bilder begriffen, und sie hatten nicht begriffen, wie sehr der technische Fortschritt den Transport von Bildern und reich bebilderten Geschichten erleichterte. Stattdessen haben sie sich der Illusion hingegeben, durch Repression den Gedankenaustausch der Bürger einschränken und kontrollieren zu können.
Jedes russische Kind kannte die Entstehungsgeschichte des Archipel Gulag von Solschenizyn, und wusste, unter welchen Mühen dieser Autor seine Manuskripte vor dem allmächtigen KGB versteckt hatte. Alek Sanchin, seit 1999 Präsident der Russischen Föderation, kannte sie zweifellos auch, denn er war ein Fan Solschenizyns; er machte im Jahr 2009 den Archipel Gulag zur Schullektüre.
Alek Sanchin und seine Generäle kannten die Geschichte, wie Solschenizyn seine Manuskripte versteckt hatte, und sie kannten und benutzten sicherlich im Jahre 2022 microSD Speicherkarten – anscheinend ohne zu realisieren, welch zuvor nie dagewesene Versteckmöglichkeit für Manuskripte diese digitalen Speicher boten.
Ein winziges Plättchen von 0,7 mm Dicke, und 11 × 15 mm Fläche fasste im Jahr 2022 locker 128 GByte und mehr. Die offiziell angegebene Dicke von 1 mm bezog sich nur auf einen Vorsprung zum besseren Greifen, den man ohne Schaden abschleifen konnte, wenn man dieses Plättchen in dem Einband eines scheinbar harmlosen Buches, wie beispielsweise der Bibel, verstecken wollte.
Doch diese Militärstrategen vollzogen in den 2020ern offenkundig nicht den Schritt vom Beobachten zum Begreifen. Deshalb wurden sie nach dem 14.07.2022 von den Bildern der kleinen Lisa erledigt. Diese kleine Heldin, an der die russischen Großmachtsträume zerbrachen, hatte das Down-Syndrom und ihre Fröhlichkeit, ihr Leben mit der Krankheit waren im Netz dokumentiert, und jeder, dem der russische Staat Zugang zum Internet verweigern wollte, konnte diese Bilder problemlos offline auf einer microSD-Karte erhalten. Tatsächlich dauerte es noch bis August 2022, bis die bebilderte Geschichte der kleinen Lisa in der Form geschaffen war, in der sie mittlerweile in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Denn die Geschichte der kleinen Lisa musste richtig erzählt werden, in dem passenden Tonfall, mit der geeigneten Sprache, und das musste natürlich die russische Sprache sein. Was nützte es, wenn der Westen sich zu seiner Bestätigung immer wieder Erfolgsgeschichten zum Verlauf dieses grausamen Angriffskriegs erzählte, wenn diese Geschichten nicht ins Russische übersetzt und fürs russische Volk zugänglich wurden?
Die Geschichte der kleinen Lisa war aber auch eine Geschichte der Unfähigkeit der russischen Generäle. Diese spielten die undankbare Rolle der verkörperten Lernresistenz. Als Sanchin von einem engen Freund ein Exemplar der microSD-Karte mit Lisas Geschichte erhielt, da begriff er, dass der Krieg für ihn verloren war. Und er erkannte, dass die Unfähigkeit seiner Generäle für alle Welt offensichtlich war. Die goldene Brücke, über die westliche Denker so viel geschrieben hatten, die man ihm bauen müsse, damit er den Krieg gesichtswahrend beenden könne, war bereits Teil der auf der microSD-Karte enthaltenen Geschichte. Und sie war tatsächlich nicht golden, sondern aus Platin. Alek Sanchin begriff, dass sich abgesehen von einigen ewiggestrigen Kriegstreibern niemand im Westen wünschte, dass Russland in den 2020ern ähnlich lange ausblutete wie im Ersten Weltkrieg, um dann ebenso vollständig zu sterben wie damals.
Sanchins Exemplar der bebilderten Geschichte der kleinen Lisa gehört mittlerweile zu den wichtigsten Exponaten im staatlichen historischen Museum in Moskau, das sich noch immer in dem Gebäude im Zentrum Moskaus an der Nordwestseite des Roten Platzes befindet, das am Tag der Krönung des Zaren Alexander III., am 27. Mai 1883 unter dem Namen Kaiserlich-Russisches Historisches Museum erstmals seine Pforten öffnete.
Sanchin dokumentierte seinen Lernprozess öffentlich und setzte sich so sehr geschickt von der Lernresistenz seiner Generäle ab. Seine Fähigkeiten als Diktator wurden danach bis zu seinem natürlichen Tod nicht noch einmal in Frage gestellt. Auch Diktatoren machten Fehler. Wichtig war, wie sie aus ihren Fehlern lernten.
Wir wissen nicht, ob Alek Sanchins Gegenspieler, der ukrainische Präsident Oleksandr Wolodymyrowytsch Zipit (Олександр Володи́мирович), die Geschichte der kleinen Lisa bereits kannte, als er von Alek Sanchin das offiziell überlieferte Exemplar der microSD-Karte erhielt, als Zeichen einer neu erwachten Gesprächsbereitschaft. Wenn ja, dann war Zipit so klug, diesen Umstand zu verschweigen. Denn er war Medienprofi. Er wusste, dass die Geschichte vom Ende des Ukrainekrieges eine gemeinsame Geschichte von ihm und Sanchin sein musste. Und wenn er, Zipit, schon diesen Krieg gewann, dann musste Sanchin den Frieden gewinnen. Sanchin musste derjenige sein, der schnell war im Lernen, der einen nichtsahnenden Zipit mit nie dagewesenen Gesprächsangeboten überraschte. Und Sanchin hatte sich immerhin die Mühe gemacht, eine besonders alte microSD-Karte mit nur 1 GB Speicherkapazität aus den Archiven des KGB heraussuchen zu lassen, zu einer Zeit, wo man auch in den Elektronikgeschäften Moskaus kaum kleinere Kartengrößen als 32 GB finden konnte. Dieses Relikt der Technikgeschichte war also in doppelter Hinsicht historisch. Eine feine Selbstironie, die Zipit sehr zu würdigen wusste.
Die Geschichte dieser microSD-Karten hat eine Pointe. Die Gegenspieler teilten den gleichen Namen, Alek (Алек) ist eine russische Variante des griechischen Namens Alexander, Oleksandr (Олександр) eine ukrainische. und sie teilten ihre Muttersprache, Russisch. Alek Sanchin war ein Urenkel von Stalins Filmvorführer. Oleksandr Zipit war mit dessen Vorkoster Juri Zipit verwandt. Diese Speicherkarten erzählten somit auch die Geschichte der Freundschaft zweier Völker, die die gleiche Sprache sprachen, auch wenn das Russische seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 dort nicht mehr Amtssprache war. Es ist eine Geschichte der Freundschaft, die durch den Wechsel von Machtverhältnissen belastet war und sich in der Krise bewähren musste.
Zipits Exemplar der microSD-Karte befindet sich im Nationalen Historisches Museum der Ukraine, im ältesten Teil Kiews in der Wolodymyrska-Straße Nummer 2 im Rajon Schewtschenko.“
Böbs bekam Fernweh vom Lesen. Moskau, fast alle russischen Autoren, die er so liebte, waren irgendwann dort gewesen, auch zu Zeiten, als St. Petersburg Hauptstadt und kulturelles Zentrum gewesen war. So schrieb die Wikipedia über Lew Tolstoi: „Ab 1855 lebte er abwechselnd auf dem Gut Jasnaja Poljana, in Moskau und in Sankt Petersburg.“ Böbs schlug das Buch zu. Silversteins anschauliche, leicht nachvollziehbare Sprache gefiel ihm. Doch er wunderte sich, warum sie nicht auf die in Russland endemische Korruption eingegangen war, die der russische Autor Gogol in die toten Seelen verewigt hatte. War Silverstein etwa nicht aufgefallen, dass es diese Korruption bereits vor über 200 Jahren gegeben hatte? Andererseits machte die Autorin ein paar verblüffende Bemerkungen zu Leo Tolstoi. Sie legte nahe, dass er seine russischen Artilleristen mit Kartätschen, Militärtechnik des 15. Jahrhunderts, habe schießen lassen, als die Engländer längst die Schrapnell-Granaten erfunden hatten. Sollte dieser Titan der russischen Literatur ohne es zu bemerken einen technologischen Rückstand dokumentiert haben? Böbs prüfte schnell die Fakten. Er griff ins unterste Bord seines Bücherregals, das sich unter dicken militärischen Schwarten bog, und zog die „Geschichte der österreichischen Artillerie“ von Anton Dolleczek hervor, die ihm sein Großonkel vermacht hatte, der selber Artillerist gewesen war. Daraus ging hervor, dass Österreich frühzeitig das Buch „The gunners guide“ in die Hände bekam, das Henry Shrapnel 1806 in London veröffentlichte, aber erst 1836 Versuche mit den neuartigen Geschossen machte, und sie 1849 im Rahmen der Belagerung von Venedig zum ersten Mal und mit großem Erfolg gegen Festungswerke anwendete. Böbs staunte, dieses Buch hatte Silverstein mit keinem Wort erwähnt. Krieg und Frieden blockierte keinen Regalplatz, man konnte es jederzeit gemeinfrei über das Internet abrufen. In Tolstois Beschreibung der Schlacht von Borodino im Jahr 1812 spielte die Artillerie eine entscheidende Rolle, aber Tolstoi erwähnte nur die mittelalterlichen Kartätschen, die im Grunde wie Schrotgewehre funktionierten: Sobald die Geschosse den Lauf verließen, zerlegten sie sich in einzelne Kugeln, die sofort einem erhöhten Luftwiderstand unterlagen und deshalb nur eine kurze Reichweite hatten. Böbs nahm sich Tolstois in den 1850ern geschriebenen Sewastopol-Zyklus vor. Auch dort kein Wort von Henry Shrapnels siebzig Jahre zuvor erfundenen Geschossen.
Böbs fielen die Augen zu. Joanne Silverstein eigentlichem Thema würde er sich später widmen. Er überflog nur kurz ihre einleitenden Worte zu der metaphorischen Suche der Nadel im Heuhaufen, zu deren Zweck die US-Amerikaner als Reaktion auf die Verbrechen des 11. September 2001 unfassbare Datenmengen in riesigen Datensilos wie dem Utah Data Center ansammelten. Die meisten der von Silverstein interviewten EDV-Experten kritisierten, dass die immer gewaltigeren Heuhaufen nicht unbedingt nötig seien bei dem vorgeblichen Ziel, Hinweise auf geplante Verbrechen wie die Angriffe auf das World Trade Center zu finden. Denn 2001 habe es ja nicht an Hinweisen auf die geplanten Verbrechen gemangelt, sondern an der Fähigkeit und dem Willen, diesen Hinweisen nachzugehen.
Dass Missbrauchspotential dieser Datensilos hätte niemand besser veranschaulichen können als die Elefanten, die sie 2050 knackten, um Bewegungsprofile US-amerikanischer Soldaten zu extrahieren. Eine der wichtigsten Waffen im Krieg gegen die USA war von den US-amerikanischen Steuerzahlern finanziert worden.