Anfang der 2040er Jahre
Regina schwelgte im kühlen Flusswasser, das ihre Beine umspülte. Wie köstlich das frische Wasser schmeckte! Ihr Durst war gestillt, doch sie wurde nicht müde, ihren Rüssel immer wieder einzutauchen, um ihren von der afrikanischen Sonne erhitzten Körper zu besprühen. Ein Windhauch strich zart über den dünnen Wasserfilm auf ihrer dicken Haut und sorgte für angenehme Kühlung.
Die ganze Herde genoss das kostbare Nass. Die jüngeren Elefanten gingen im Planschen und Spritzen auf, die Alten liebten vor allem die Entlastung, die ihnen das Wasser verschaffte. Der Auftrieb ließ das Gewicht ihrer tonnenschweren Körper auf einen Bruchteil schrumpfen.
Regina hörte Laute der Zufriedenheit. Wohlig klangen sie, und sie stimmte ein. Ihr Geist schwamm in einem Meer aus Glück. Je mehr sich Regina entspannte, desto klarer und deutlicher tönte es aus den Tiefen ihres Bauches. Die alte Sprache der Elefanten war so ungekünstelt. Laute der Entspannung wirkten besänftigend. Sie und die anderen Dickhäuter verständigten sich mit dem ganzen Körper.
Ihr Rüssel befähigte Regina, Worte der Wut hinauszuposaunen, die meilenweit durch die afrikanische Savanne schallten. Natürlich nur, wenn sie entsprechend ungehalten war. Mit dem Rüssel konnte sie zudem riechen und schmecken, betasten, sanft streicheln, aber auch kräftig zupacken. Und weil sie eine von Menschen gemachte Manschette um ihre Supernase trug, beherrschte sie obendrein die menschliche Sprache.
Plötzlich wurde Regina abgelenkt. Sie hörte kraftvolle Laute des Verbindens. Aus der Ferne kommend prallten Klänge der alten Sprache gegen ihre großen faltigen Ohren. Wie ein Magnet zog die Quelle dieser Klänge Regina an. Sie erkannte einen Ruf der Zusammenkunft, der ihr aus weiter Entfernung zugetragen wurde.
Reginas Großmutter, die Leitkuh, wiederholte die Laute des Verbindens und bekräftigte sie mit Worten des Vertrauens. Sie erklärte ihrer Herde, dass die alte und weise Muanna zur Versammlung rief. Dann drehte sie ihren Körper und ging zwei Schritte in die Richtung der Rufenden. Regina sah, wie ihre Mutter Syanna die Bewegungen der Leitkuh kopierte, und tat es ihr ohne Zögern gleich. Das Signal zum Aufbruch pflanzte sich ohne Gegenstimme fort, und die Herde verließ den Fluss und folgte dem Ruf aus der Ferne.
Stundenlang schritten sie durch die Savanne. Es musste 15 Uhr sein, schätzte Regina mit Blick auf den Stand der Sonne. So groß ihre Achtung für die alte Sprache war, so arbeitete ihr Verstand doch meist in der neuen Sprache. Sie benutzte Worte wie »15 Uhr«, für die es in der Sprache ihrer Vorfahren keine direkte Entsprechung gab. Die alte Sprache war geeignet, die Umgestaltung des Landes zu beschreiben, das von Jahr zu Jahr trockener wurde. Den Schmerz angesichts dieser Veränderungen, die sie über Jahrzehnte hinweg beobachtete, konnte ihre Großmutter in der alten Sprache angemessen ausdrücken. Doch das Verständnis der Ursachen dieser Umformungen war erst mit der von den Menschen gelehrten Redekunst gekommen. Die Zweibeiner hatten den Elefanten eine neue Art zu denken gegeben und Einblick in Zusammenhänge, die ihnen bis dahin verschlossen gewesen waren.
Deshalb war Regina bewusst, dass das Land, das ihre Herde durchstreifte, Teil eines Kontinents war. Dieser gehörte zu einem Planeten, einer kleinen, sich immer stärker erwärmenden Kugel. Diese Kugel befand sich in einem überwältigend großen, lebensfeindlichen Weltall. Daher die zunehmende Trockenheit.
Allein der Gedanke an diese Menschen, die seltsamste aller Lebensformen, ließ sie einen Ruf der Verwirrung ausstoßen. Noritz, die Regina vorausging, verlangsamte ihren Schritt und schnupperte in ihre Richtung. Jetzt entfuhr Regina ein Laut der Scham, weil sie ohne jeden Grund ihre Cousine beunruhigt hatte. Selbst wenn sie gar nicht anwesend waren, sorgten die Menschen für Durcheinander. Schon hörte Regina von Noritz stammende Laute der Verwirrung, die wie wuselige kleine Schleichkatzen in ihren Schädel eindrangen und ihre Überlegungen in Unordnung zu bringen versuchten.
Regina hob ihre Rüsselspitze und aktivierte damit ihr Sprachrohr. Diese von Menschen gemachte Manschette schmiegte sich um das obere Ende ihres Rüssels, nahm von dort Reginas Gedanken auf und formte seltsame Geräusche aus ihnen. Das Gegenstück um den Rüssel von Noritz machte daraus ein Abbild ihrer Geistestätigkeit. In schneller Folge schickte sie ihre Ideen mit diesem Gerät auf die Reise.
Mit wenigen Worten in menschlicher Sprache beruhigte Regina Noritz, dass alles in Ordnung sei. Sie erzählte von ihren Gedanken an die Menschen. Was waren das doch für unergründliche, rätselhaften Wesen, die Schlingen aus Draht versteckten, um unaufmerksame Tiere zu fangen. Draht! Welch abscheuliche Grausamkeit! Entsetzliche Fallen, die es nicht kümmerte, ob sie eine Antilope fingen oder einem Elefanten den Rüssel abtrennten.
Grauen schwappte durch Reginas Schädel und entfuhr ihr in Form eines gequälten Quietschens. Und doch gab es auch andere Menschen, die Fallen stellende Artgenossen jagten. Und vor vielen Jahren hatte die größte aller menschlichen Leitkühe die Eingebung, die Fesseln zu sprengen, die bis dahin die Verständigung zwischen den Spezies verhindert hatten.
Ihr war es zu verdanken, dass Regina das Buch Der Herr der Ringe gelesen hatte, dessen Autor J.R.R. Tolkien sich mehr als jeder andere zuvor in die langsame, traditionelle Denk- und Sprechweise der Elefanten hineingedacht hatte. Allerdings hatte Tolkien ihre Sprache fiktionalisiert und fantastischen Baumhirten, den Ents, zugeschrieben. Erst 100 Jahre nach Veröffentlichung seines Buches war der wahre Zusammenhang entdeckt worden.
Dieser menschlichen Leitkuh, Physikerin und Trägerin des Literaturnobelpreises, war es zu verdanken, dass zwischen Regina und Noritz auf den kommenden Meilen die Gedanken in so großer Zahl dahinflogen wie Vogelschwärme auf dem Okavango. Regina tauschte mit Noritz Erinnerungen an die gemeinsamen Monate in dessen Delta. Beim Gedanken an diesen Fluss kamen die Laute der Zufriedenheit zurück, als befänden sie sich wieder in dieser unvergleichlichen Oase des Lebens, für die der Okavango all sein Wasser opferte, mitten im wüstenhaften Landesinneren von Botswana.
Die beiden jungen Elefantenkühe ließen alle von Menschen erdachten Worte davontreiben wie vom Wind verwehte Vogelnester. Ihre Artgenossinnen fielen in den Chor der Zufriedenheit ein. Die wenigen männlichen Elefanten schlossen sich an, junge Bullen, die noch von der Mutter gesäugt wurden.
Die Herde wanderte durch karges, staubiges Land. Nur hier und dort ragten meterhohe Termitenhügel aus der von der Sonne verbrannten Landschaft. Doch der Familienverband wurde eingehüllt in eine Wolke aus Glück, die die Elefanten mit ihren eigenen Stimmen erschufen.
Am Ziel ihrer Wanderung hatten sich bereits einige Herden versammelt. Weit über hundert Artgenossinnen tauschten in der alten Sprache Laute der Sorge aus. Thema war offenbar eine Bedrohung durch die Zweibeiner. Die alte Sprache kannte Worte für diese, denn Elefanten lebten seit zwei Millionen Jahren mit ihnen auf diesem Kontinent. Doch die Details erschlossen sich Regina nicht. Jede Herde benutzte die alte Sprache auf etwas andere Weise, hatte im Grunde eine eigene alte Sprache. Das erschwerte den Austausch enorm.
Mit einem Trompetenlaut gebot Muanna Schweigen. Dann trat sie zur Seite und gab den Blick frei auf den Kadaver eines Elefantenbullen, einen grauen Fleischberg, der so hoch auf der Seite lag, dass Regina kaum darüber hinwegschauen konnte. Die Luft war erfüllt von Lauten des Entsetzens. Muanna trompetete erneut und wechselte dann in die neue Sprache.
»Liebe Artgenossinnen, dies ist eine Stätte des Grauens.« Mit dem Rüssel sog sie die Luft über dem toten Körper ein. »Die Düfte an diesem Ort zeugen vom Geschehen. Dieser Bulle wurde von einem Rivalen getötet. Die Natur hat es so eingerichtet, dass sie die Bullen mit Hormonen vollpumpt, wenn sie paarungsbereit sind. In der Musth verlieren sie ihren Verstand und verwandeln sich in wütende Kampfmaschinen.«
»Monster«, erschallte ein Zwischenruf.
»Der Mörder hat den Schädel seines Feindes zertrampelt und auf seine Leiche uriniert«, fuhr Muanna fort. »Dies ist eine Stätte der Mahnung, Bullen keine wichtigen Ämter anzuvertrauen. Wer von euch möchte nach vorne kommen? Wenn ihr keine Angst habt, kommt her, riecht und seht!«
Regina wurde von ihrer Mutter Syanna sanft nach vorne geschoben. Widerwillig näherte sie sich dem Ort des Entsetzens. Der modrige Geruch der Verwesung mischte sich mit dem scharfen Duft des Testosterons, des Sexualhormons, das die Bullen in der Musth in Bestien verwandelte. Übelkeit flutete ihren Körper. Benommen suchte sie den Schutz ihrer Mutter. Dort wartete sie ab, bis der letzte Teenager den Tatort besichtigt hatte.
»Wer hat ›Monster‹ gerufen?«, fragte Muanna.
Eine entfernte Base von Regina gab einen Laut der Bestätigung in der alten Sprache von sich.
»Menschen können schlimmer sein«, entgegnete Muanna in der Sprache, die die Menschen den Elefanten gelehrt hatten. »Das möchte ich euch nun zeigen. Zwei Stunden Marsch. Bitte folgt mir. Wenn ihr noch Fragen habt, wird meine Tochter sie beantworten.«
Dann drehte sich Muanna und gab ein mäßig lautes Rumpeln aus den Tiefen ihres Bauches von sich, das rund fünf Sekunden andauerte. Dabei flatterten ihre Ohren rhythmisch – eine Aufforderung zum Aufbruch in der alten Sprache.
Es folgten Fragen in der Menschensprache, wo die Wanderung hingehen solle, ob es dort zu Trinken gäbe und wie das Gras sei. Die Elefantenkuh zu Muannas Linken gab Auskunft: Ihr Ziel liege an einem Fluss. Auf dem Weg dorthin gäbe es Wasser und saftiges Gras.
In Abständen von einer Minute wiederholte Muanna ihren Ruf. Sie hob ihr rechtes Vorderbein und deutete damit die Bewegung des Losgehens an. Reginas Großmutter stellte sich parallel zu Muanna auf und drückte so ihre Zustimmung zu der vorgeschlagenen Richtung aus. Wie Muanna stieß sie ein fünfsekündiges Rumpeln aus und flatterte mit den Ohren. Syanna, Regina und der Rest ihrer kleinen Herde stellten sich in der gleichen Richtung auf. Weitere Kühe folgten. Die Rufe des Aufbruchs vermischten sich und wurden drängender. Nach einer Viertelstunde war die letzte Frage beantwortet, und sämtliche Elefanten waren auf das gleiche Ziel ausgerichtet.
Muanna setzte sich in Bewegung, und ihre Artgenossinnen folgten. Der Boden erzitterte unter den Schritten von über hundert Elefanten Sie kamen an einen Fluss, der reichlich Wasser führte. Das Gras war schmackhaft – wie versprochen, doch die gespannte Erwartung des von Menschen angerichteten Grauens trieb sie nach kurzer Rast weiter. Sie marschierten am linken Ufer. Schnell strömte das Wasser dahin. Dann kamen sie flussabwärts an eine Stelle, wo sich der Fluss weitete und flach wurde.
Muanna blieb stehen, eine flache Grube zu ihren Füßen. Regina spähte hinab, wurde verwirrt von einem grünbraunen Fleckenmuster. Kleidung! Dann erkannte sie eine unverkennbar menschliche Duftnote, gemischt mit dem Geruch der Verwesung. Zuletzt nahm sie die harzige Note eines verletzten Baumes wahr.
»Dieser Mensch ist tot«, erklärte Muanna den um sie Versammelten, »und eure Nasen werden vergeblich nach Spuren von Testosteron in der Luft suchen. Er wurde aus kalter Berechnung von seinen Artgenossen getötet.«
»Nicht schade drum«, kam ein Zwischenruf.
»In diesem Wald sind dutzende Tote«, fuhr Muanna fort. »Sie zeugen von einem Brauch der Menschen, den diese ›Krieg‹ nennen. Dieser ›Krieg‹ erfüllt mich mit Sorge.«
»Die Menschen sind meist Männer. Man kann ihnen so wenig vertrauen wie den Elefantenbullen.«
»Sie haben uns vieles gegeben. Geräte, ihre Sprache, ihr Wissen und ihre Wissenschaft«, kamen weitere Zwischenrufe.
»Mir haben sie künstliche Backenzähne gegeben, ohne die ich vorletztes Jahr verhungert wäre – so wie all unsere Vorfahren spätestens mit 65 Jahren elend verhungert sind«, fuhr Muanna fort. »Die Menschen haben uns auch ungelöste Probleme gegeben, allen voran den Klimawandel, den sie nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Dummheit bewirken. Die Menschen scheinen weitaus weniger boshaft, als unsere Vorfahren vermutet haben. Und sie sind offensichtlich weit weniger klug. Nur wenn einmal ein Mensch einen klugen Gedanken hat, dann sind sie gut darin, diesen aufzuschreiben und weiterzugeben. Doch diesen Trick beherrschen wir jetzt auch. Genau deswegen werdet ihr euch jetzt fragen, weshalb ich in der alten Sprache diese Versammlung einberufen habe, anstatt meine Gedanken aufzuschreiben und euch mit elektronischer Post zu schicken.«
Das fragte sich Regina schon seit einer ganzen Weile. Doch dann erzählte Muanna von ihrer Entdeckung, dass die Menschen einander immer wieder töteten, wenn sie sich in Fragen von Besitz und Eigentum nicht einig wurden.
»Kooperation und Teilen liegt in unserer Natur – und so unglaublich das klingen mag, das Gleiche gilt für die Menschen. Doch die meisten von ihnen haben beschlossen, individuelle Reichtümer anzuhäufen und somit gegen die eigene Natur zu leben. Deshalb lehnen sie jedes Wirtschaften, das auf Teilen basiert, umso heftiger ab.«
Laute der Verwirrung entschlüpften Muanna, dann fuhr sie fort: »Der Krieg gehört zu den unbegreiflichsten Tätigkeiten der Menschen. Die Toten hier haben wie ihre Feinde nicht aus Wut, sondern von Berufs wegen getötet. Um Geld zu verdienen. Geld und bezahlte Arbeit sind seltsame Erfindungen, aber der Beruf des Soldaten ist die Verrückteste von allen.«
Muanna schüttelte den Kopf, und ihr Rüssel peitschte durch die Luft.
»Wenn wir eine auf Kooperation basierende Ökonomie auf die Beine stellen, werden wir so große Konflikte mit den Menschen bekommen, wie es sie seit hundert Jahren nicht gegeben hat. Dann werden manche der Geräte, die wir von den Menschen erhielten, zu Werkzeugen der Überwachung werden.«
»Wenn wir mit den Menschen kämpfen müssen – werden wir dann Soldaten brauchen?«, fragte Syanna.
Worte des Abscheus aus den Bäuchen von hundert Kühen schallten weit über die Grenzen des Waldes hinaus, in dem die Elefanten die Spuren des vergangenen Scharmützels begutachteten.
Geduldig wartete Muanna ab, bis sich der Tumult legte. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Doch eine Schlussfolgerung liegt auf der Rüsselspitze: Wir dürfen uns nicht endgültig von der alten Sprache verabschieden, weil diese der sicherste Weg ist, über weite Strecken zu kommunizieren. Im Gegenteil, wir müssen die alte Sprache vereinheitlichen.«
Regina graute bei diesem Gedanken. Welch fürchterliche Arbeit das wäre! Sie besaß ebenso wenig Talent für Sprachen wie ihre Artgenossinnen. Doch Muannas anderer Vorschlag kam ihren Stärken entgegen. Was immer sie mit Hilfe elektronischer Geräte aufschrieben und verschickten, würden sie in Zukunft verschlüsseln, damit die Menschen nicht mitlesen könnten. Verschlüsselung war Mathematik, und diese lag den Elefanten.
So sahen es die meisten Zuhörer, schon bald war die Luft erfüllt von Worten der Zustimmung in der alten Sprache, in die sich eine in Menschensprache geführte Diskussion von Detailfragen mischte.
Erst am nächsten Morgen zerstreuten sie sich, um die Botschaft auf traditionelle Art über den Kontinent zu verbreiten.